Newsletter 2Wie ein Tag auf einem Staudamm mein Leben veränderteEs war ein Sommertag in den Bergen Österreichs vor etwa 5 Jahren: Das Wetter war bewölkt, kühl und die Wolken hingen recht tief. Wir waren mit der Familie unterwegs und wollten uns einen der höchstgelegenen Stauseen in Österreich anschauen. Dieser Tag sollte mein Leben für immer verändern. Schauplatz des Geschehens war die Kölnbreintalsperre. Ein Ungetüm von einem Staudamm, dass einen alpinen Talkessel von Zwei- und Dreitausendern verschließt. So entstand ein gewaltiger Wasserspeicher auf über 2000 m Höhe. Wir hatten unser Auto auf dem angrenzenden Parkplatz abgestellt und liefen auf der Straße, die oben auf dem Staudamm verlief durch die eindrucksvolle Kulisse. Vor und hinter uns ragten gewaltige Berge auf, rechts von uns befand sich der riesige Stausee und links von uns fiel der Staudamm gefühlte hunderte Meter ins Tal und bot eine spektakuläre Aussicht auf das Malta-Tal. In diesem Moment rief mein Sohn "Papa, schau mal, was ich kann." Er war zurück gelaufen, hatte den größten Stein gepackt, den er gerade noch bewegen konnte, diesen in die Mitte des Staudamms getragen und wuchtete selbigen über die Absperrung. Bevor ich irgendetwas sagen konnte, ließ mein Sohn den Stein los. Er fiel eine Zeitlang, krachte dann mehrmals auf die Schräge der Staumauer und zersprang in viele Einzelteile, bevor er den Talgrund erreichte.
Zum ersten Mal in meinem Leben schaute ich mir den unteren Rand eines Staudammes bewusst an. Irgendwo da unten musste es ein gewaltiges Rohr geben. Eine Öffnung, durch die Wasser aus dem Staudamm entweichen konnte. Weil nach meinem Verständnis der Sinn eines Staudamms darin liegt, kontrolliert Wasser an einen bestimmten Ort fließen zu lassen. Genauer gesagt, sollte es da irgendwo einen regelbaren Verschluss, also ein ziemlich großes Ventil geben. Ich begann über die Konstruktion nachzudenken. Was, wenn ich so ein Staudamm wäre? Mit ungefähr 14 Jahren saß ich am Klavier in unserem heimischen Wohnzimmer in Homburg. Ich erinnere mich noch ziemlich genau. Es wird Mittag bis Nachmittag gewesen sein. Zur Freude (oder eigentlich doch eher zum Leidwesen) unserer Nachbarn saß ich an unserem braunen Grotrian Steinweg, die Frontverkleidung des Klaviergehäuses hatte ich zwecks höherer Lautstärke entfernt. Ich wollte etwas Besonderes spielen. Ich wollte etwas Neues, etwas Außergewöhnliches spielen. Ich wünschte mir so sehr etwas unglaublich Tolles spielen zu können und damit ein intensives Gefühl für mich zu erzeugen. Ich sehnte mich danach, dass etwas von außen, ein Impuls, irgendetwas, kommen möge und ich danach wunderschön spielen würde. Bitte versteh' mich nicht falsch: Es ging nicht darum, dass ich nicht üben wollte. Nun, das wollte ich tatsächlich nicht, aber ich verbrachte Stunden am Klavier, in denen ich alles, was mir irgendwie im Radio oder MTV gefiel, versuchte nachzuspielen. Was mir auch überraschend oft gelang. Es war nur so, dass ich mit einer inneren Gewalt versuchte, etwas noch Ungespieltes, etwas Neues aus mir hervor zu pressen. Doch egal, wie sehr ich mich danach sehnte, egal, mit wieviel Anstrengung ich versuchte etwas hervorzupressen, es kam nicht das hervor, nach dem ich mich eigentlich sehnte. Zurück auf dem Staudamm: Während ich sah, wie der fallende Stein auf der gewaltigen Staumauer regelrecht explodierte, stellte ich mir die Funktionsweise dieses Ventils am Fuß der Staumauer vor. Am tiefsten Punkt des Staudamms würde es ein Rohr geben, durch das Wasser aus dem Staudamm abgelassen werden konnte. Es würde im Normalfall geschlossen sein. Es würde sich öffnen lassen, wenn ein Techniker eine Vorrichtung bediente. Das heißt: Ich stellte mir vor, dass Arbeit und Energie, aufgebracht werden mussten um das Rohr zu öffnen. Die Arbeit des Technikers besteht nicht darin, den Wasserdruck aufzubauen. Der Job ist es also, das Ventil zu öffnen, damit Wasser aus dem Damm strömt. Auf einmal dachte ich an den Moment als 14-Jähriger am heimischen Klavier. Ich dachte, ich müsste etwas aus mir, aus meinem Innersten hervorpressen. Was wäre, wenn ich eigentlich nichts anderes wäre, als ein Ventil an einem gewaltigen Staudamm? Dann wäre meine Aufgabe nicht, einen möglichst hohen Druck auf das Wasser auszuüben. Auch würde es nicht darum gehen, Wasser mit Eimern auf der einen Seite des Damms zu schöpfen und über die Dammkrone auf die andere Seite des Damms ins Tal zu schütten. Die Arbeit, die Energie müsste also in einen Vorgang gesteckt werden, bei dem mein "inneres Ventil" geöffnet würde. Es würde also Kraft kosten, aber ich würde die Kraft von einer Substanz fühlen, die durch mich hindurch "fließt". Eine eigentümliche Vorstellung. Aber irgendwie auch erstaunlich befriedigend. Mein Album "Geschichten, die das Klavier erzählt" ist eigentlich nichts anderes, als die Sammlung vieler Momente in den letzten Jahren, bei denen ich es irgendwie geschafft habe, diese Denkrichtung in meinem Kopf zu ändern. Nicht pressen, sondern loslassen. Nicht drücken, sondern öffnen. Ich wünsche Dir, dass Du öfter solche Momente erlebst. Vielleicht kann meine Musik ja eine Atmosphäre schaffen, in denen sich Dein Ventil sich etwas leichter bewegen lässt? Mich würde es jedenfalls sehr freuen. Wenn Du magst - hier sind meine aktuellen Musikvideos: Herzlichst Euer Erlo Wagner pianist / komponist / orchestrator
PS: Dieser Text ist Teil meines Newsletters, den ich in unregelmäßiger Folge verschicke. Wenn Du den Newsletter abonnieren möchtest, schreibe bitte "Ich will den Newsletter" an newsletter@erlowagner.de
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